Jetzt hebt er seine blassen Unterarme und wäscht sich gründlich das Gesicht. Jetzt öffnet er die Flügel und fliegt davon. Ich weiß nicht, was genau ein Gebet ist. Ich weiß, wie ich aufmerksam sein kann, wie ich niederfallen und knien kann im Gras, wie ich müßig und gesegnet sein kann und durch die Felder streifen, was ich den ganzen Tag getan habe. Sag mir, was sonst hätte ich tun sollen? Stirbt nicht letztendlich alles, und zu früh? Sag mir, was willst du tun mit deinem einen wilden und kostbaren Leben? (Übersetzung: Margrit Irgang)
1963, im Alter von 28, gelang Oliver erstmals die Veröffentlichung einer ersten Gedichtsammlung "No Voyage and Other Poems". Sie besuchte die Ohio-State-University, die sie wie so viele erfolgreiche Autoren vor ihr jedoch ohne Abschluss verließ. Später lehrte die Dichterin selbst an der Case Western Reserve University. Die CWRU ist eine private Universität in Cleveland, Ohio. Ihren Durchbruch erlang sie mit der Veröffentlichung des fünften Gedichtbandes "American Primitive", mit dem sie den Pulitzerpreis für Poesie 1984 gewann und in deren Folge sie in den Olymp der US-amerikanischen Dichter aufstieg. In den folgenden Jahren wurden ihr verschiedene bedeutende Ehrungen zuteil, unter anderem der National Book Award für "New and Selected Poems". Mary Oliver lässt sich in ihrem Werk insbesondere von der Natur inspirieren, ebenso wie von ihren Erinnerungen an Ohio, später auch New England. Sie macht gerne ausgedehnte Spaziergänge in ihrer direkten Umgebung und lässt sich von "Kleinigkeiten" beeindrucken, die natürlich in Wahrheit keine Kleinigkeiten sind.
"Warum Gedichte? " könnte mensch fragen … und wenn ich mich frage: WOFÜR GEDICHTE? … dann habe ich mehrere Antworten … im Moment ist gerade im Vordergrund: "Sie berühren mich … sie erinnern mich … und nähren mich … und bringen mich in Kontakt mit meinen 'inneren Ressourcen'. " Und da gibt es diesen kleinen Text … den ich gerade nicht finde … und der mich immer wieder neu inspiriert, Gedichte und Geschichten zu genießen … wie 'erlesene Köstlichkeiten' … immer nur eine zur Zeit … und dann nachzuspüren … … und ja, manchmal gelingt mir das:-) Are you happy?
In den meisten Fällen aber ist gar nicht der große Umbruch, die völlige Veränderung notwendig, um mehr kostbare und wilde Momente in unser Leben zu bringen. Was notwendig ist, auch darauf weist uns Mary Oliver ein paar Zeilen vor dem obigen Zitat in ihrer wunderbaren Sprache hin: "I do know how to pay attention, how to fall down into the grass, how to kneel down into the grass, how to be idle and blessed, how to stroll through the fields, which is what I have been doing all day. Tell me, what else should I have done? " "Ich weiß, wie ich aufmerksam sein kann, wie ich ins Gras fallen kann, wie ich ins Gras knien kann, wie ich müßig und gesegnet sein kann, wie ich durch die Felder schlendern kann, das ist was ich den ganzen Tag getan habe. Sag mir, was sonst hätte ich tun sollen? " Das wilde und kostbare Leben liegt also nicht im großen Umbruch… nicht in den lebensverändernden Entscheidungen… nicht einmal darin, die Welt zu verändern. Das wilde und kostbare Leben zeigt sich im Respekt für jeden unserer Augenblicke.